Pibach hat geschrieben:berlinonaut hat geschrieben:Das Symptom ist - und da scheinen wir uns ausnahmsweise einig zu sein - dass Radfahrer die STVO grossflächig ignorieren. Eine Folge davon ist laut polizeilicher Unfallstatistik, dass mehr Radfahrer als nötig verunglücken….
Die Polizei erfasst ja zu den Unfällen jeweils die Regelverletzung (nach ihrer Kategorisierung). Dabei wird nicht erfasst, ob die Regelverletzung durch Ignorieren oder Übersehen entstand. Du kannst das so einfach also nicht als Folge des Ignorierens ableiten.
Zum einen ignoriere ich auch etwas, wenn ich es übersehe. Wenn ich z.B. auf der Autobahn ein Tempo 100-Schild übersehe ignoriere ich als Folge davon die Geschwindigkeitsbegrenzung (weil sie mir gar nicht bewusst ist). Ignoriere ich hingegen das Schild, habe ich es zwar wahrgemommen, fahre aber trotzdem zu schnell. Das Ergebnis ist in beiden Fällen das Gleiche: Ich ignoriere die vorgeschriebene Geschwindigkeit.
Pibach hat geschrieben:
Sowohl Modell-Überlegungen als auch Studien legen nahe, dass der Beitrag an Unfällen durch Ignorieren von Regeln gering ist.
Siehe z.B. ADFC Studie „Fahrradunfälle mit Todesfolge 2008 bis 2012 - Analyse, Ursachen, Hintergründe“,
PDF:
"Es kommen also nicht die jungen und möglicherweise risikobereiten Radfahrer zu schaden sondern die älteren und vermutlich besonnener fahrenden Menschen." (Abschnitt 1.3)
Interessante Studie. Da sind noch einige interessante Fakten mehr drin, z.B. dieser:
1.4 Verursacher von Radunfällen mit Todesfolge
Radfahrer verursachen gut ein Drittel der Radunfälle mit Todesfolge
Was ja im Zuge deiner Theorie der Selbsterhaltung nicht passieren dürfte. Zum Thema "rote Ampeln" ist die Studie etwas ambivalent. In der Übersicht zu den tödlichen Radunfällen 2008 bis 2012 unter Punkt 1.3. ist das Ignorieren roter Ampeln auf Platz 2 der Ursachen mit sechs toten Radfahrern dadurch. In Fünf dieser Fälle hat der Radfahrer die Ampel ignoriert, in einem ein Autofahrer.
Unter 2.4, wo es um Radunfälle allgemein geht, heisst es dann:
2.4 Rote Ampel
Das Fahren über „Rot“ ist nicht nur bei Radfahrern ein häufig zu beobachtendes Fehlverhalten. Es hat als Ursache für Radunfälle aber nur untergeordnete Bedeutung. Die Folie der Berliner Polizei von der Pressekonferenz zu Verkehrsunfällen des Jahres 2012 zeigt, dass andere Fehlverhalten von Radfahrern in weitaus größerem Maß zu Radunfällen führen, als das Fahren über „Rot“.
Aufgelistet werden dann fünf Ursachen, auf Platz 2 liegt "Fehler beim Einfahren in den fliessenden Verkehr" mit 619 Zählern für 2012. Dort dürfte sich wohl die verunglückte 16-jährige aus den letzten Postings auch wiederfinden.
Zum Thema: "Wer verursacht eingentlich Radunfälle sagt die Studie unter 2.1:
Die Verursacherquote von Radfahrern in Berlin liegt derzeit bei etwa 55 % (einschließlich der Eigen- und Alleinunfälle). Sie liegt heute leicht unterhalb dem Niveau der 1980er Jahre und ist seit etwa einem Jahrzehnt konstant bis leicht rückläufig.
Was auch nicht so ganz die These vom unschuldigen Radler stützt, der lediglich ein Opfer der Verhältnisse ist. Leider ist in der Studie die absolute Zahl an Unfällen nicht genannt. In jedem Fall hielte ich es für Vermessen bei einer derart hohen Verursacherquote ohne weitere Begründung zu behaupten
Pibach hat geschrieben:
dass der Beitrag an Unfällen durch Ignorieren von Regeln gering ist.
Wie anders sollte man zum Verursacher deklariert werden, als wenn man gegen irgendeine Spielregel verstossen hat (mag sie auch schwachsinnig sein)? Und selbst wenn die Polizei sich mal vertut - von rund 50% auf 0% Quote wirst Du damit nicht kommen.
Pibach hat geschrieben:
Hier tendiert die polizeiliche Ergebung auch zu einer Verfälschung, weil sie gehalten ist einen Verursacher zuzuordnen. Das filtert also einen erheblichen Teil der komplexen (multifaktoriellen) Fälle. Ausserdem wird das den in der StVO definierten Ursachen zugeordnet, es gibt aber wesentlich mehr Ursachen.
Es gibt z.B. bei den tödlichen Unfällen die Ausweisung als "Ungeklärt", die in 2% der Fälle gewählt wurde beim Verursacher. Die STVO bemüht sich um Eindeutigkeit, um in möglichst jeder Situation ein eindeutig richtiges und eindeutig falsches Verhalten auf Basis der STVO zu ermöglichen. Es ist also Zweck der Übung, bei einem Unfall hinterher im Idealfall sowohl einen Verursacher als auch eine verletzte Norm zuordnen zu können. Als Ursächlich für den Unfall wird in aller Regel das Ereignis betrachtet, das schwerer wiegt von der Normverletzung her, alternativ manchmal auch das, das früher eingetreten ist. Eine Statistik ist genau wie ein Modell darauf angewiesen, Komplexität zu vereinfachen, um daraus Erkenntnisse gewinnen zu können. Wenn man zu sehr vereinfacht ist das schlecht. Wenn man gar nicht vereinfacht ist das nicht besser - das sind dann Rohdaten, vollständig, aber leider ist nichts daraus zu erkennen.
Pibach hat geschrieben:
und dass sie in Berlin bei knapp 50% der Unfälle mit Radfahrern als Verursacher gelten.
Das soll wohl aussagen, dass sie etwa ausgeglichen selbst Schuld seien.
Diese Art der suggestiven Auswertung hat die Rad-Spannerei ja schon mehrfach kritisiert, weil sie die Eigenunfälle und Rad-Rad-Unfälle beinhaltet. Im mehrjährigen Mittel liegt der Verursacheranteil von Radfahrern auch niedriger, siehe obige ADFC Studie (Abschnitt 2.1).
Nö, siehe ebenda, sie kommt wie oben geschrieben sogar auf 55%.
Die Verursacherquote von Radfahrern in Berlin liegt derzeit bei etwa 55 % (einschließlich der Eigen- und Alleinunfälle). Sie liegt heute leicht unterhalb dem Niveau der 1980er Jahre und ist seit etwa einem Jahrzehnt konstant bis leicht rückläufig.
Richtigerweise merkt sie an, dass Radfahrer genau wie Fussgänger und LKW typischerweise nicht mit ihresgleichen kollidieren im Gegensatz zu Autos, woraus sich eine statistische Abweichung ergibt, die man wiederum auf mannigfaltige Art und Weise einrechnen kann. Was nach Deiner Ansicht nicht in hinreichendem Masse passiert. Kann ich nicht beurteilen.
Die Studie hat übrigens in meinen Augen abseits des Fehlens der Gesamtzahl an Unfällen noch zwei weitere Schwächen: Bei der Quotierung der Unfälle nach Alter fehlt die Bezugsgrösse - wie sich die Radfahrer insgesamt ihrerseits altersmässig quotieren. Dann gibt es noch die Aussage zu den Unfällen bei Dunkelheit. Dort heisst es unter 2.6:
"80% der Unfälle finden bei Tageslicht statt, 4,3% in der Dämmerung, 14,9% im Dunkeln." Erneut fehlt die Bezugsgrösse, wieviel Prozent der Radfahrten bzw. Radkilometer denn im Dunkeln oder in der Dämmerung abgespult werden. Im Radspannereiblog ist ein Video verlinkt, das zumindest die Möglichkeit nahelegt, dass das erheblich weniger sind als 20%:
http://www.rad-spannerei.de/blog/2014/0 ... gesablauf/
Potentiell finden also überproportional viele Unfälle im Dunkeln statt und eine Vermutung wäre, dass die Lichtquote der Berliner Radler was damit zu tun haben könnte. Das wäre eine Low Hanging Fruit zur Unfallvermeidug. Schade, dass der ADFC da offenbar kein Interesse dran hat oder Tomaten auf den Augen. Zudem ist die Kategorisierung von "bei Tageslicht" ausweisslich der Grafik eher sommerzeitlich geprägt "Tag" geht von 7:00 bis 19:00 - das stimmt wohl nur für einen Teil des Jahres...
Pibach hat geschrieben:berlinonaut hat geschrieben:
In Wirklichkeit wäre das Symptom durch die Pibachsche Vorgehensweise also gar nicht weg sondern lediglich vom Bug zum Feature deklariert - es heisst also nur anders, geändert hat sich an den Fakten in Wirklichkeit nichts und wohl auch nichts an den Folgen.
Sag ich doch: Beregelung der Radfahrer hat kaum nennenswerten Einfluss - man reduziert im wesentlichen nur deren Quote.
Das heisst Du hast gar kein Interesse daran, die Zahl der Unfälle oder die Zahl der Verletzten und Toten zu reduzieren, Du willst nur, dass sie nicht schuld sind? Übrigens: Wenn legale Anarchie im Strassenverkehr dazu führt, dass mehr Radfahrer auf den Strassen unterwegs sind (was zu beweisen wäre) sollte das wiederum statistisch zu einem linearen Anstieg der Unfallzahlen sowie der Verletzten und Toten führen. Nicht sehr erspriesslich.
Pibach hat geschrieben:
Ursachen des Symptoms „viele Radfahrer ignorieren diverse Verkehrsregeln“ sind u.a., dass die Infrastruktur und die Regeln nicht wirklich angepasst sind auf die Radfahrer.
Da gebe ich Dir recht, allerdings nur teilweise. Meine Ignoranz der STVO als Radfahrer beschränkt sich im Wesentlichen auf solche Infrastrukturfälle. Allerdings nicht nur - gelegentlich ist es schlicht Bequemlichkeit. Und Verkehrsregelignoranz die nicht auf Infrastruktur rückführbar ist sieht man täglich allerorten in massivem Ausmass. Nicht nur in Berlin und nicht nur bei Radfahrern. Auch in Städten mit hervorragender Radinfrastruktur wie Münster. Wenn hingegen die Ignoranz von Regeln schlicht der Tatsache geschuldet ist, dass es Regeln gibt wird es albern. Wenn Radfahrer mangels Regeln keine verletzen können werden sie es logischerweise auch nicht tun. Da Autofahren aber nicht illegal ist werden sich auf absehbare Zeit diverse Verkehrsmittel die Strassen teilen müssen und daher wird es ganz ohne Verkehrsregeln wohl nicht gehen.